Dienstag, 30. Mai 2017

Während du die Prominenz meiner Wirbelreihe entlang balancierst, achte ich sehr genau auf den Abstand zwischen uns. Das Gespür für die Zentimeter versuche ich seit Tagen aufrecht zu halten. Es dürfen keine Millimeter werden, sagen die, die immer etwas zu sagen haben. Denn Millimeterabstand birgt die Gefahr der Kollision. Birgt sie nicht nur, sondern unterfüttert sie, gibt ihr Halt und Raum und Rahmen. Millimeterabstand ist die Kollision, zischt es durch die Hohlräume meiner Zahnreihen.

Die Wände der Wohnung habe ich mehrschichtig mit Styroporplatten ausgepolstert. Die Platten habe ich im Fluss treiben sehen. Ich sah sie und rannte los, die Netze zu spannen. Wie früher als Kind, die Senke in den Bach, die kleinsten Fische zu sieben, spannte ich die Netze aus dicken Leinenstricken, warf sie die Brücke hinunter und fischte die Styroporplatten aus dem Fluss. Zum Trocknen hatte ich sie mit einer Leine durch den Hof gespannt. Die Nachbarn lugten durch ihre Fensterlöcher und scharrten wie Hühner an den Gardinen. Die Platten baumelten im Wind. Den Flussgeruch konnte der Wind nicht aus den Platten treiben. Der treibt jetzt von den Wänden durch meine Wohnung. Besser Fluss als totes Tier, denke ich. Kollisionskurs. Eines immer gegen das andere. Abwägen. Wer mag. Und auch: wer nicht mag.

Durch das Dickicht duckst du dich auf Millimeterabstand heran.

Immer nur mitsingen, mitbrüllen, mitflennen. Ich versuche uns einander auf Abstand aber doch auf denselben Wegen zu halten.

Die Küche ist leer. Alles Verwertbare habe ich verwertet. Alles, was nicht gut für mich ist, alles, was keim- und sonstig schadstoffbelastet ist, habe ich durch die Fenster den Nachbarhühnern zum Fraß hingeworfen. Wie sie gescharrt haben, während ich eine Tüte nach der anderen aus dem Fenster schmiss. Erst die Nudeltüten, dann den Reis, die angerissene Tüte Mehl, die letzte Milchpackung, zwei Scheiben Käse, die an den Rändern schon verhärtet waren, den Honig aus Lindenblüten, die Paprikaschoten und die Kamillenteebeutel. Alles was da ist, muss raus, zischte es durch meine Zahnlücken, den Gaumen entlang, die Nebenhöhlen suchend, den Gehörgang findend.

Zisch. Zischelezisch. Alles belastet. Alles muss raus! Hier und heute! Schmeiß es raus, sonst passiert was!

Es müssen mehrere Zischler sein. Ich kann im Zischen Höhen und Tiefen unterscheiden, als höre ich einem mehrstimmigen Chor beim Einsingen zu.

Zischelezisch. Zischzisch. Zischlezisch. Schmeiß das Zeug weg, sonst passiert dir was! Zisch.

Ich höre dich. Du stehst vor meiner Wohnungstür. Du klopfst. Und ich höre dich reden. Du bist also nicht allein. Du hast jemanden mitgebracht. Du redest mit jemandem über mich. Zeigst diesem Jemand, wo ich wohne, du erzählst ihm Dinge über mich, die keiner wissen kann. Du spionierst mir nach und nun hetzt du mir noch einen dieser Verschwörer auf den Hals. Ich höre dich genau. Ich weiß, was du vorhast. Du stehst vor meiner Tür und sprichst mit diesem Jemand, der gegen mich ist, über mich. Du erzählst ihm Dinge, die nur ich wissen kann. Meine Styroporplatten quietschen, wenn ich mit den Fingern an den Wänden entlangstreife. Ich sehe mich auf dem Bildschirm, der das Bild der Überwachungskamera zeigt. Auf mich gerichtet, alles ist auf mich gerichtet, deshalb muss ich mich überwachen, meinen Körper, der bereits befallen scheint von den äußeren Einflüssen. Ich höre dich mit jemanden auf dem Flur vor meiner Tür sprechen. Dort kann nur über mich gesprochen werden. Worüber sonst ließe sich vor einer Wohnungstür reden, wenn nicht genau über diesen Menschen, der dahinter lebt. Ob man ihn kennt oder nicht, ob man ihm jemals begegnet ist oder nicht, ob man für diesen Menschen jemals ein Päckchen entgegengenommen und behalten hat oder nicht. An so einem Ort lässt sich über nichts anderes sprechen, als über diesen Menschen. Über mich sprichst du! Du führst was im Schilde.

Zischlezisch! Zisch. Schrei sie an! Sie wollen dir Böses! Zischzisch! Die planen doch etwas. Die Wände halten nicht mehr lange aus. Das Styropor stinkt nach Fluss, nicht nach totem Tier. Da hast du nochmal Glück gehabt. Schick sie weg!

Aus meinen Zahnreihen treten Stimmen hervor. Die Stimmen bilden winzige Käferkörper in meinem Mund- und Rachenraum. Ich würge. Glückskäfer, sich selbst produzierende Skarabäen. Chepre. Ich bin erwählt, ich bin von den Schöpferwesen auserwählt. Ich würge. Ich speie die Zischelstimmen in Käferform aus.

Du stinkst nach totem Tier, kreischen die Chepre mir entgegen.

Nach totem Tier! Die Wände riechen nach Fluss. Die Wohnung riecht nach Fluss. Ich bin auf einem Schiff und aus dem Fluss heraus beobachten du und dieser Jemand mich. Ihr wartet nur darauf, dass ich von Bord gehe. Ich muss mich waschen. Nach totem Tier gieren die Geier.

Du stinkst! Schreien die Chepre, die jetzt nur noch vereinzelt aus meinem Mund wie aus der Erde hervorkriechen. Wann habe ich die Muttermurmel verschluckt? Wann genau habe ich eine Kugel gegessen? Du warst das. Du hast mir beim letzten Mal dieses Stück angeboten, hast gesagt, es sei eine Schokoladenkugel! Und jetzt stehst du im Wasser vor meinem Schiff und sprichst mit diesem Jemand, sagst ihm sicher, dass die Käfer längst geschlüpft sein müssten. Deswegen seid ihr hier, deswegen! Du bist die Mistkäfermutter!

Zisch. Zisch. Zischele Zisch! Du stinkst. Du riechst nicht nach Fluss. Zisch! Zischele Zisch! Die warten auf dich. Die Aasgeier, deinen Körper wollen sie. Am liebsten tot, aber die nehmen den auch lebendig. Zisch! Wollen nicht länger warten. Warten nicht, bis du dich endlich totgemacht hast.

Mach dich tot!

Du heilige Kugeldreherin. Du hast die Pille gedreht  und gesagt, es sei Schokolade. Die Käfer hast du in mich gepflanzt. Eure Experimente könnt ihr mit einer anderen machen. Ich stinke nicht. Ich bin nicht tot. Bin nicht so dumm, wie ihr glaubt. Ihr dort vor meiner Tür, ihr, die im Wasser steht und darauf wartet, dass ich einfach so aufgebe und von Bord gehe. Könnt ihr lange warten! Ich kenne die Milchstraße und kann auch im Dunkeln navigieren.

Du und der Jemand, ihr hämmert gegen meine Wohnungstür. Ich höre euch heucheln. Ihr schreit und ruft meinen Namen, als ruft ihr einen Sicherheitscode aus, die übrigen von euch zu warnen. Ihr wollt mich täuschen. Ihr täuscht mich nicht! Ich sehe euch auf dem Bildschirm, der jetzt das Bild der außen angebrachten Kamera zeigt. Da stehst du also. Und das ist der Verschwörer neben dir. Sieht aus wie eine Schlange. Es wundert mich nicht, dass du auf die hereingefallen bist. Du armer Mensch. Ich hätte es von vornherein wissen müssen. Ich Trottel. Du Dummkopf, du Taugenichts, du falscher Mittelpunkt in der richtigen Welt. Und der, der da mit dir steht, der zischelt ja auch, kann gar nicht sprechen ohne zischeln. Holt Luft und zieht nur Gezischel hinterher.

Zisch. Zischelezisch. Lezisch! Du einziger Punkt in der falschen Welt. Hol dir die Schlange.

Ich werde mir Vögel besorgen müssen. Vielleicht wenn ich die Fenster öffne, solange offen halte, bis ausreichend Vogelgekreisch in der Wohnung sein wird. Dann werdet ihr staunen. Denn dann werdet ihr nichts mehr hören. Euer Geschrei nützt euch auch nichts. Die Abhörzellen in meinen Zähnen kannst du dir sonst wohin stecken. Waren nicht nur Käferbrutstätten in deinen Muttermistkugeln. Habe ich mir doch gleich gedacht. Du!

Zischzischzisch. ZISCH!

Ihr hört mich ab, weil ihr mich nicht aushören könnt. Seit Tagen schon. Ich sehe euch auf dem Bildschirm. Ich höre euch vor meiner Wohnungstür. Ich weiß, was ihr mir in den Mund gelegt habt, und ich schreie, damit ihr taub werdet, ihr und eure Abhörohren. Vogelstimmen sind beste Hintergrundgeräusche. Oder mit den Fingern über Styroporplatten schieben. Das schmerzt euch? Seit Tagen schon?

Mach dich tot! Zischlezisch. Die warten jetzt auch nicht mehr. Die warten nicht länger. Entweder du machst dich tot oder die machen das.

Ruhe! Seid ruhig. Mich macht keiner tot. Können die gar nicht. Ich bin schneller. Habe euch doch längst durchschaut. Ich habe die Axt und die Säge. Wie sonst hätte ich das Styropor zuschneiden können. Ich habe, was ich brauche. Und in meinen Zähnen die Abhörkanäle habe ich unterbrochen, habe mir einfach die Zähne ausgeschlagen. Blutet noch. Siehst du! Habt ihr daran nicht gedacht? Oder habt ihr mir das nicht zugetraut?

Zisch. Zisch. Zisch. Zisch.

Und, bist du nur noch einstimmig? Was ist los mit deinem Chor?

Mistkäfermutter, bleib ruhig vor meiner Tür stehen. Stehe dich da fest und den Jemand behältst du auch an deiner Seite. Die Schlange. Habt ihr nicht geglaubt, dass die Vögel hier in Scharen fliegen und euch die Ohren voll kreischen? Aber Vögel fressen Käfer.
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