Donnerstag, 11. Dezember 2014

Hinterher werden wir sagen, wir hätten das Laub nicht fallen sehen. Hinterher werden wir stelzbeinig im Minirock stehen und uns über die Kühle der letzten Tage beschweren. Wie wir den Winter nicht haben kommen sehen, werden wir sagen und kopfschüttelnd, ein Bein nachziehend die Allee entlang wandern. Warten, dass ein eiliger Fahrer seinen Wagen stoppt, uns auf seine Spritztour einzuladen. Solange er zahlt, sagst du und unterbrichst mich in dem, was wir alles nicht gesehen, nicht bemerkt, nicht gewusst haben werden. Denn, dass die Zeit kommen würde, in der uns unstete Fragen gestellt werden würden, dass diese Fragezeit kommen würde, das hatten wir gewusst. Wir hatten gewusst, dass die zertretenen Füße uns in diese Fragezeit hinein und aus den normalen Zuständen hinaus katapultieren würden. Und trotzdem werden wir sagen, wir hätten das Laub nicht fallen gesehen.

Dass mir dieser vielgliedrige Fuß in seinen Einzelteilen so fremd sein würde, hatte ich nicht ahnen können. Sie haben ihn mir abgenommen, wie man Jemandem am Reklamationsschalter ein defektes Gerät abnimmt, sie hatten diesen einen vielgliedrigen Fuß von mir genommen und vor mir in seine Einzelteile zerlegt. Scheibchenweise zerstückelt. So saß ich, den Kopf fest auf die Schultern gestützt, der Fuß lose vom Rest meines Körpers, so saß ich und hörte die stampfende Stimme der Schwester über den Gang eilen: „Nicht mal zum Frühstücken kommt man!“. Ich saß und stellte mir vor, wie der leere Magen der Schwester sich umdrehen und sie von innen her überfallen wird, und ich bekam Angst, sie könnte über den Flur zu mir in dieses Zimmer treten, meinen abgenommen Scheibchenfuß sehen und genüsslich hineinbeißen. Wie man eben genüsslich in ein Stück Fleisch beißt, wenn man seit Stunden nichts zu essen bekommen hat. Wenn man solange nichts zu essen bekommen hat, dass der eigene Magen über einen herfällt. Wenn man nicht zum Essen kommt, weil Füße abgenommen, betrachtet, zerscheibt und wenn möglich auch repariert werden wollen.

Der Fuß in seinen Einzelteilen war einer genaueren Untersuchung wert, befand man. Hier ein Brüchchen, der Spalt gerade wie ein Haar dünn, kaum zu beachten, dort ein Riss, da ein Gewölbe im Knochen, und anderswo, als habe jemand angebaut. Die Stimmen klingen wie aus einem Rohr. Scheibchenweise dringen sie hervor, treten mir in den Gehörtunnel, schlagen an Schädelwände, hallen zurück. Prallen wütend ab, dort, wo sie nicht weiter kommen. “Keine Brüchchen, keine Risschen. Ihr Fuß sieht in seinen Einzelteilen, soweit wir blicken können, gesund aus! Knicken sie beim Gehen nach Innen?“  Ich versuche mich an mein Gehen zu erinnern. Ich erinnere mich nicht. Ich verlor jede Haltung, nachdem die Sache mit den zertretenen Füßen begonnen hatte. Ich fiel zur rechten Seite ab, die linke knickte ein, der Oberschenkel zog zusammen, die Hände griffen nach allen Seiten an alles Halt- und Stützbare. Wohin knicken denn meine Füße, wohin sollten sie denn knicken, frage ich mich. Und kaum hatte ich keine Antwort gegeben, stampfte schon wieder die Hungerstimme der Schwester durch den Flur: „MEEEEEEENSCH!“ Ich könne jetzt gehen, sagt die Scheibenstimme. Wie ich ohne den mir abgenommenen Fuß denn gehen solle, frage ich und schaue auf die Einzelteile vor mir. Der Scheibenautomat spuckt Bilder in Passbildübergröße. Motorengeräusche, als wollten wir auf der Stelle zum Mond fliegen. Ich nehme eines der Bilder und klebe es mir an die Hosennaht, genau dort, wo mir der Fuß mit Handschuhfingern abgenommen worden war. Es will nicht halten.

Ich werde sagen, ich habe von all dem nichts gewusst. Ich werde meine Fingerknöchel aneinander schlagen und überlegen, in welche Richtung wir die Hunde loslassen sollen. Und dort, wo dann der Knochen bricht, dort wo die größere Hälfte des kaputt gegangenen Knochens sein wird, dorthin wird das Glück fallen, und dorthin wird der Größere von uns beiden treten. Wenn möglich auch auf Füße.

Und dass das Laub gefallen war, bevor wir uns die Füße zertraten, davon werden wir nichts gewusst haben.

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