Samstag, 12. Oktober 2013


Ich habe mir Mücken eingefangen. Fünf mit einem Streich, für jeden Finger eine Mücke. Ein Wink mit der Fünffingerhand. Ich habe Mutter die Mücken vom Kopf gefangen. Mutter sagt immer, ich fräße ihr die Haare vom Kopf, was natürlich nicht stimmt. Wer isst Haare? Aber jetzt könnte Mutter sagen, ich finge ihr die Mücken vom Mund. Denn es waren wirklich fünf Mücken, die um Mutters Mund, nein, vielmehr vor Mutters Mund umherflogen. Wobei ich nicht weiß, ob das Tingeln der Mücken mit dem Wort Fliegen zu bezeichnen ist. Also dieses Tingeln treffend bezeichnet. Weil Fliegen ja auch etwas Andächtiges, Heroisches, etwas ganz eigen Beeindruckendes hat. Ehrfurcht vor Mücken? Das kann ich mir an meinen fünf Fingern abzählen. Nein. Null Ehrfurcht. An keinem Finger ein Krümel.

Mutter ist schweigsam geworden, seitdem ich ihr die fünf Mücken vom Mund weggefangen habe. Vielleicht trugen diese Mücken ihre Worte von ihren schmalen Lippen, vielleicht waren es diese Tingeltierchen, die sie sprechen ließen. Sprechen von der Zeit ohne mich, sprechen von der Zeit mit mir, sprechen von dem, was sie erwarten wird. Mutter glaubt an den Weltuntergang. Jeden Tag begrüßt sie die Welt mit ihren sooft schon wiederholten Lebewohlworten. Als wären die Mücken vor ihrem Mund Eintagsfliegen, sie jeden Tag neu zu begrüßen, zu verabschieden, überhaupt etwas zu sagen. Wenn man nur noch einen Tag zu leben wüsste, was würde man noch alles sagen wollen? Oft fragt man so, was man noch alles tun würde wollen, aber was alles noch sagen? Weil man ja weiß, danach bleibt keine Chance mehr etwas ungesagt zu machen, etwas nachträglich noch auszusprechen. Was sagen?

Ich habe meine Fünffingermückenhand an Mutters Mund gelegt. Aber es rührt sich nichts, sie lässt meine Hand liegen, als läge ihr trocken gewordener Glanz auf den Lippen. Glanzlos. Mutters Nicht-Geste und meine Fünffingermückenhand. Ein wenig ekelt mich davor. Fünf an einer Hand, jede auf einem Finger. Wenn eine jede jetzt zustechen und ein wenig von mir aufsaugen würde. Wenn jetzt die Welt für immer unterginge. Und Mutter bliebe so unsagbar in meine Hand mit ihrem Mund, ihrem Lebewohlworte-Mund.

Ich habe mir diese Mücken von Mutter eingefangen. Und nun bekomme ich sie nicht mehr los. Mutter nicht und auch die Mücken nicht. Ich schaue und suche nach Eintagsgläsern.

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